junge Welt vom 26.02.1999

Agenda 2000:
Mörderische Überschußproduktion

Die Globalisierung des Bauernlebens.
Serie von Gerhard Klas (V/Schluß)

Gerhard Klas, Berlin

Fünfhunderttausend Tonnen Rindfleisch liegen allein in der EU in Tiefkühlhäusern, Butterberge türmen sich. Mit der Agenda 2000 und den damit einhergehenden Senkungen der Garantiepreise für Rindfleisch, Getreide und Milch gibt EU- Agrarkommissar Franz Fischler vor, dieser Überproduktion einen Riegel vorschieben zu wollen. Allein die Erhöhung der Produktionsquoten, z. B. für Milch, paßt nicht in dieses Konzept. Sie ist vielmehr Beleg dafür, daß die Preissenkungen eher der Sanierung des EU-Haushalts als der Vermeidung von Überproduktion dienen sollen. Alles in allem entsprechen die agrarpolitischen Maßnahmen der Agenda 2000 den Vorgaben der Welthandelsorganisation (WTO), deren Hauptaufgabe die Regulierung - bzw. Deregulierung - des Weltmarkts ist. Mit der Agenda 2000 will sich die EU auf die kommenden WTO-Verhandlungen im Dezember dieses Jahres vorbereiten.

Schon heute ist die EU größter Exporteur von Lebensmitteln. Damit das so bleibt, ist die Überschußproduktion jedoch weiter notwendig, denn nur mit günstigen Preisen kann sich die EU-Agrarindustrie zur Zeit auf dem Weltmarkt behaupten. Die Leidtragenden sind nicht nur die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sowie die Klein- und Ökobauern in Europa, sondern vor allem auch ihre Kollegen in der Dritten Welt.

In den letzten Jahren hat sich im Zuge der Globalisierung innerhalb der internationalen Bauernschaft mehr und mehr eine Art »Klassenbewußtsein« durchgesetzt. Auf der einen Seite stehen die Kleinbauern, oftmals Pächter des von ihnen bewirtschafteten Landes. Auf der anderen Seite befinden sich die Nahrungsmittelindustrie und agrarindustrielle Großbetriebe.

Seit 1993 hat dieses »Klassenbewußtsein« in der internationalen Bauernorganisation »La via campesina« seinen organisatorischen Ausdruck gefunden. Das Gründungstreffen von La via campesina fand in Mons/Belgien statt und war vor allem vom Widerstand gegen die damals kurz vor dem Abschluß stehenden GATT- Agrarverhandlungen, aus denen die WTO hervorging, inspiriert. La via campesina bezeichnet sich selbst als einen Zusammenschluß von Kleinbauern, armer Landbevölkerung, indigenen bäuerlichen Gemeinschaften, Landarbeitern und landlosen Bauern. Zu den Mitgliedsorganisationen gehören u. a. die europäische Bauernkoordination CPE, die brasilianische Landlosenbewegung MST, die polnische Peasant Solidarnosc und die indische Bauernorganisation KRRS.

Nach Ansicht der Organisation bedeutet Landwirtschaft unter den Bedingungen der WTO Überschußproduktion für den Export in einigen Regionen der Welt, die mit der Zerstörung der Nahrungsmittelproduktion in anderen Gegenden einhergeht. Die Folgen des hoch subventionierten Nahrungsmitteldumpings aus den Industrieländern sind mörderisch. 400 Kleinbauern im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh haben im Winter 1997/98 aus Verzweiflung Selbstmord begangen, weil ihre wirtschaftliche Situation hoffnungslos war, berichtet La via campesina. Die Liberalisierungspolitik der WTO löst außerdem eine neue Welle von Landflucht aus. »Der Zugriff auf Land wird für Konzerne erleichtert, während Bauernfamilien immer weniger Zugang haben - weltweit wurden Millionen Familien gezwungen, das Land zu verlassen, einschließlich zwei Millionen Menschen allein in den letzten Jahren in Brasilien«, so die internationale Bauernorganisation.

Im Mai 1998 war La via campesina mit auf der Straße, als mehrere tausend Menschen gegen die Ministerkonferenz der WTO in Genf demonstrierten. Es sei unannehmbar, so die Organisation, »die Regeln zur Erzeugung von Lebensmitteln von der sogenannten »Freihandelsordnung« und damit von den transnationalen Konzernen, die den internationalen Handel dominieren, diktieren zu lassen«. La via campesina setzt sich dafür ein, die Agrarwirtschaft aus dem Zuständigkeitsbereich der WTO wieder herauszunehmen. Die Bauernorganisation fordert, daß souveräne Staaten ihre eigene Agrarpolitik gestalten müssen, »um damit auch ihre Ernährungssouveränität garantieren zu können«.

In einem Interview mit der »Unabhängigen Bauernstimme« verdeutlichte Rafael Alegria aus Honduras, Mitarbeiter im internationalen Sekretariat von La via campesina, die Differenz zur WTO. »Wir glauben nicht«, so der Sprecher, »daß die Ernährungssicherheit durch den internationalen Handel gewährleistet wird und das Problem nur darin besteht, das nötige Geld zu haben, um die Nahrungsmittel zu kaufen«. Die europäische Agrarpolitik zerstöre »die Märkte des Südens«. MST und KRRS, beide Mitgliedsorganisationen bei La via campesina, haben deshalb ihre Teilnahme an Protesten gegen die Doppelgipfel kommenden Juni in Köln angekündigt. La via campesina wird auch wieder im Dezember gegen die »Jahrtausendkonferenz« der WTO auf die Straße gehen.